Joseph Eberle- Carlos H. Hunsche: Das Haus, das man nicht sah
In Brasilien ist der Schriftsteller Alexander Lenard gestorben

Stuttgarter Zeitung 28 Jg. Nr 100,2. Mai 1972 Seite 10.


Courtesy of Schiller - Nationalmuseum
Deutsches Literaturarchiv
Marbach am Neckar, Germany


Den Lesern unserer Zeitung ist Dr. Alexander Lenard kein Unbekannter. Wir haben vor Jahren seine Schilderungen aus einem brasilianischen Dorf am Rande des Urwalds, das er sich zur Heimat erkoren hatte, in diesen Spalten veröffentlicht ("Die Kuh auf dem Bast", DVA Stuttgart). Auch die Entstehungsgeschichte des lateinischen Kinderbuchs "Winni ille Pu", das seinen Namen in der ganzen Welt bekannt gemacht hat, ist in der StZ erschienen. Heute müssen wir seinen, uns jetzt erst bekanntgewordenen Tod melden. Wir haben einen Freund Dr. Lenards gebeten, ihm den Nachruf zu schreiben; hier ist er.

         Joseph Eberle



"Verzeih, ich schreibe immer schwerer und immer schlechter. Briefe schreibe ich schon lange nicht, bestenfalls Zettel... Ich sitze unverändert im Tal. Manchmal kommt ein seltener Leser und schaut, wo sich die Dinge abgespielt haben. Dann zeige ich ihm die Richtung der Tatorte... Ich bin alt und müde." So schrieb er noch einen Monat vor seinem Tod. Vor einigen Tagen schloss sich sein Lebenskreis, und die Welt wurde ärmer um einen wahren Menschen, der zugleich eine der vielfacettiertesten Persönlichkeiten unserer immer flächiger werdenden Zeit war.

Noch in der alten k. u. k. Tradition Budapests 1910 geboren, besuchte er in Ungarn die Volksschule und in Oesterreich die Mittelschule, studierte in Wien Medizin, lebte von 1936 bis 1953 in Rom, zum Teil im Untergrund, siedelte dann nach Brasilien ("Ich habe genug von Kriegen"), wo er in São Paulo bei einem TV-Quiz über Johann Sebastian Bach das Geld bekam, mit dem er sich am Rande des brasilianischen Urwaldes, hart an der Serra do Mar, in einem lieblichen Tal, dem Dona-Emma-Tal, vier hektar Land kaufte, mit einem Haus darauf.

Als ich vor vielen Jahren zum erstenmal in das langgestreckte Dona-Emma-Tal kam und nach Dr. Lenard fragte, antwortete mir der flachsblonde Junge, natürlich in Deutsch, ebenso überraschend wie konfus: "Ei, da können Sie nicht fehlgehen; es ist das Haus, das man nicht sieht." Erst nachher merkte ich daß die Antwort nicht so dumm war: Es war das Haus, das man wegen der vielen Bäume und Büsche, die es umstanden, nicht sehen konnte, während die Kolonistenhäuser kaum Baumbestand hatten.

Aus dieser Geschichte, die ich Lenard erzehlte, entstand der Titel seines letzten Buches "Ein Tag im unsichtbaren Haus" (Stuttgart, 1970), das die ganze Gedankenfüle und Bildungstiefe eines meditierenden Urwaldphilosophen zeigt, den der unsinnige Wirbel zweier Kriege aus der europäischen Geistesheimat gefegt hatte. Ebenfalls in Stuttgart war schon 1963 sein verbreitetstes und am meisten übersetztes Buch erschienen: "Die Kuh auf dem Bast", eine lose aneinardergereihte Sammlung spritziger Geschichten aus dem südbrasilianischen Kolonistenalltag. - Eine literarische Zusammenfassung dieser beiden (vergriffenen) Bücher wird demnächst erscheinen mit einem Vorwort von Professor Josef Eberle.

Lenard - wie selten werden diese Fälle in der Welt! - trug noch das gesamte Bildungsgut des Abendlandes lebendig in sich und vermochte es in seinen Büchern wie ein Feuerwerk aufleuchten zu lassen, und das gleich in verschiedenen Sprachen, von denen er ein gutes Dutzend beherrschte. Noch vor einigen Jahren wurde er nach den USA berufen, um an amerikanischen Colleges Griechisch und Latein zu lehren...

Einige seiner Bücher hat Lenard auch selbst illustriert, so "Die Kuh auf dem Bast", mit eigenwilligen Tuschzeihnungen. Sein Haus am Rande der Sierra hängt voller selbstgemalter Blumen- und Landschaftsbilder. Auch kleine Skulpturen verfertigte er in seiner römischen Zeit. - Musik aber war sein Lebenselixier. Wie wir schon wissen, "verdiente" er sich seine vier Hektar Land auf Grund eines Quiz über J.S. Bach: "Für mich beginnt die Musik mit Bach und endet auch mit Bach." "Bach-Stelzer" war auch sein Rittername bei den Schlaraffen, und wenn einmal die anregende Unterhaltung lange nach Mitternacht ins Stocken kam, setzte sich Lenard ans Klavier (das ihn auch in der Hungerzeit in Rom nie verlassen hat) und improvisierte die schönsten Passagen nach Melodien, die man ihm gab.

Er war ein hinreißender Erzähler und Briefschreiber. Die glücklichen Besitzer von Briefen von ihm hüten diese wie Kostbarkeiten. - Aus früheren Jahren stammen seine medizinischen Abhandlungen, viele davon in Italienisch, wie "Limitazione della prole" und "Partorire senza dolore". Besonders genial war er in der Kunst des Übersetzens. Er übersetze ins Lateinische und ins Griechische, so die englische Bärengeschichte von Milne ("Winni ille Pu") oder den französischen Roman von Françoise Sagan "Bonjour, Tristesse" ("Tristitia, Salve"). Er schrieb "Römische Geschichten" auf ungarisch und "Sieben Tage Babylonisch" auf deutsch.

Aber alles dies war für ihn nicht das wichtigste: "Wichtig für mich selbst ist nur die Lyrik. Wenn die nicht überlebt, habe ich umsonst gelebt." Aber sämtliche seiner lyrischen Veröffentlichungen, wie "Das Orgelbüchlein", "Asche", "Andrietta" und "Ex Ponto", sind hoffnungslos vergriffen. Hier nur zwei kurze Proben:

Sind wir nicht immer verbunden,
Ob wir umarmt oder weit?
Uhrzeiger Du meiner Stunden,
Glockenschlag Du meiner Zeit.
Unüberwindlichen Schranken
Trotzend, verbleiben wir eins,
Kehrreim Du meiner Gedanken,
Orgelton Du meines Seins.

Oder:
Ich bin zu lange barfuß gelaufen.
Ich glaub',
Würd' ich im Leben
Nach vielen Jahren
In prächtigen Karossen fahren,
Meine Seele liefe daneben
Bloßfüßig durch den Staub.


Was ist nun das Größte an Lenard? Wir, die wir ihn kannten und ihm Nächte hindurch lauschten, während von draußen der tropische Nachthimmel neugierig in sein Arbeitszimmer schaute, glauben es darin zu sehen: in seiner Menschlichkeit. Trotz seiner Ansicht, daß nicht ein Kosmos, sondern ein erbarmungsloses Chaos hinter allen Dingen steckt, war er in seinem praktischen Leben, seinen Kolonisten gegenüber, ein Dienender, sei es als Arzt oder als Ratgeber, selbst in landwirtschaftlichen Dingen. Gleichzeitig fühlte er und hielt er auf Distanz gegenüber allen Menschen. Er brauchte wohl diese fruchtbare Isolierung, obwohl die daraus resultierende Einsamkeit, vor allem auch im Bewußtsein der geographischen und menschlichen Entfernung von Europa, nicht immer leicht zu ertragen war und oft zu tiefer Melancholie führte, trotz seiner Vielsprachigkeit, die eigentlich das beste Vehikel zum Dialog ist. Die Visionen einer Überbevölkrung unserer Erde und die daraus sich ergebende, immer größer werdende Geographie des Hungers sowie die Vermassung ("Verameisung") der Menschen haben ihn tief beunruhigt. Seine Übersiedlung nach Brasilien mag aus dieser Sorge mitbestimmt worden sein: Brasilien, so groß wie Europa, hatte Raum, hatte Nahrung, und dort konnte der Mensch noch so sein, wie er sein wollte. Erst später erkannte er die Problematik der Dinge auch in diesem großen und reichen Lande (praktisch der Inhalt der "Kuh auf dem Bast"), und er flüchtete in das Einfache: er meditierte, malte und wurde Gärtner: "Es ist gut, Gärtner zu sein; denn ihm geht die Arbeit nie aus. Bücher, Statuen und Häuser werden fertig, Gärten nie..."

Dieser wahre Mensch und Europäer hat nun aufgehört zu existieren. Am 13. April 1972 traf ihn ein neuer Herzschlag, dem er erlag. Nach tropischer Landessitte wurde er noch am gleichen Tage in die Erde gebettet, und zwar auf ausdrücklichen Wunsch in Dona Emma unter einer Tanne, die er eigenhändig gepflanzt hatte.

CARLOS H. HUNSCHE



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