Courtesy
of Schiller - Nationalmuseum
Deutsches Literaturarchiv
Marbach am Neckar, Germany
Den Lesern unserer Zeitung ist Dr. Alexander Lenard kein Unbekannter.
Wir haben vor Jahren seine Schilderungen aus einem brasilianischen Dorf
am Rande des Urwalds, das er sich zur Heimat erkoren hatte, in diesen
Spalten veröffentlicht ("Die Kuh auf dem Bast", DVA Stuttgart).
Auch die Entstehungsgeschichte des lateinischen Kinderbuchs "Winni
ille Pu", das seinen Namen in der ganzen Welt bekannt gemacht hat,
ist in der StZ erschienen. Heute müssen wir seinen, uns jetzt erst
bekanntgewordenen Tod melden. Wir haben einen Freund Dr. Lenards gebeten,
ihm den Nachruf zu schreiben; hier ist er.
Joseph Eberle
"Verzeih, ich
schreibe immer schwerer und immer schlechter. Briefe schreibe ich schon
lange nicht, bestenfalls Zettel... Ich sitze unverändert im Tal.
Manchmal kommt ein seltener Leser und schaut, wo sich die Dinge abgespielt
haben. Dann zeige ich ihm die Richtung der Tatorte... Ich bin alt und
müde." So schrieb er noch einen Monat vor seinem Tod. Vor
einigen Tagen schloss sich sein Lebenskreis, und die Welt wurde ärmer
um einen wahren Menschen, der zugleich eine der vielfacettiertesten
Persönlichkeiten unserer immer flächiger werdenden Zeit war.
Noch in der alten k. u. k. Tradition Budapests 1910 geboren, besuchte
er in Ungarn die Volksschule und in Oesterreich die Mittelschule, studierte
in Wien Medizin, lebte von 1936 bis 1953 in Rom, zum Teil im Untergrund,
siedelte dann nach Brasilien ("Ich habe genug von Kriegen"),
wo er in São Paulo bei einem TV-Quiz über Johann Sebastian
Bach das Geld bekam, mit dem er sich am Rande des brasilianischen Urwaldes,
hart an der Serra do Mar, in einem lieblichen Tal, dem Dona-Emma-Tal,
vier hektar Land kaufte, mit einem Haus darauf.
Als ich vor vielen Jahren zum erstenmal in das langgestreckte Dona-Emma-Tal
kam und nach Dr. Lenard fragte, antwortete mir der flachsblonde Junge,
natürlich in Deutsch, ebenso überraschend wie konfus: "Ei,
da können Sie nicht fehlgehen; es ist das Haus, das man nicht sieht."
Erst nachher merkte ich daß die Antwort nicht so dumm war: Es
war das Haus, das man wegen der vielen Bäume und Büsche, die
es umstanden, nicht sehen konnte, während die Kolonistenhäuser
kaum Baumbestand hatten.
Aus dieser Geschichte, die ich Lenard erzehlte, entstand der Titel seines
letzten Buches "Ein Tag im unsichtbaren Haus" (Stuttgart,
1970), das die ganze Gedankenfüle und Bildungstiefe eines meditierenden
Urwaldphilosophen zeigt, den der unsinnige Wirbel zweier Kriege aus
der europäischen Geistesheimat gefegt hatte. Ebenfalls in Stuttgart
war schon 1963 sein verbreitetstes und am meisten übersetztes Buch
erschienen: "Die Kuh auf dem Bast", eine lose aneinardergereihte
Sammlung spritziger Geschichten aus dem südbrasilianischen Kolonistenalltag.
- Eine literarische Zusammenfassung dieser beiden (vergriffenen) Bücher
wird demnächst erscheinen mit einem Vorwort von Professor Josef
Eberle.
Lenard - wie selten werden diese Fälle in der Welt! - trug noch
das gesamte Bildungsgut des Abendlandes lebendig in sich und vermochte
es in seinen Büchern wie ein Feuerwerk aufleuchten zu lassen, und
das gleich in verschiedenen Sprachen, von denen er ein gutes Dutzend
beherrschte. Noch vor einigen Jahren wurde er nach den USA berufen,
um an amerikanischen Colleges Griechisch und Latein zu lehren...
Einige seiner Bücher hat Lenard auch selbst illustriert, so "Die
Kuh auf dem Bast", mit eigenwilligen Tuschzeihnungen. Sein Haus
am Rande der Sierra hängt voller selbstgemalter Blumen- und Landschaftsbilder.
Auch kleine Skulpturen verfertigte er in seiner römischen Zeit.
- Musik aber war sein Lebenselixier. Wie wir schon wissen, "verdiente"
er sich seine vier Hektar Land auf Grund eines Quiz über J.S. Bach:
"Für mich beginnt die Musik mit Bach und endet auch mit Bach."
"Bach-Stelzer" war auch sein Rittername bei den Schlaraffen,
und wenn einmal die anregende Unterhaltung lange nach Mitternacht ins
Stocken kam, setzte sich Lenard ans Klavier (das ihn auch in der Hungerzeit
in Rom nie verlassen hat) und improvisierte die schönsten Passagen
nach Melodien, die man ihm gab.
Er war ein hinreißender Erzähler und Briefschreiber. Die
glücklichen Besitzer von Briefen von ihm hüten diese wie Kostbarkeiten.
- Aus früheren Jahren stammen seine medizinischen Abhandlungen,
viele davon in Italienisch, wie "Limitazione della prole"
und "Partorire senza dolore". Besonders genial war er in der
Kunst des Übersetzens. Er übersetze ins Lateinische und ins
Griechische, so die englische Bärengeschichte von Milne ("Winni
ille Pu") oder den französischen Roman von Françoise
Sagan "Bonjour, Tristesse" ("Tristitia, Salve").
Er schrieb "Römische Geschichten" auf ungarisch und "Sieben
Tage Babylonisch" auf deutsch.
Aber alles dies war für ihn nicht das wichtigste: "Wichtig
für mich selbst ist nur die Lyrik. Wenn die nicht überlebt,
habe ich umsonst gelebt." Aber sämtliche seiner lyrischen
Veröffentlichungen, wie "Das Orgelbüchlein", "Asche",
"Andrietta" und "Ex Ponto", sind hoffnungslos vergriffen.
Hier nur zwei kurze Proben:
Sind wir nicht immer verbunden,
Ob wir umarmt oder weit?
Uhrzeiger Du meiner Stunden,
Glockenschlag Du meiner Zeit.
Unüberwindlichen Schranken
Trotzend, verbleiben wir eins,
Kehrreim Du meiner Gedanken,
Orgelton Du meines Seins.
Oder:
Ich bin zu lange barfuß gelaufen.
Ich glaub',
Würd' ich im Leben
Nach vielen Jahren
In prächtigen Karossen fahren,
Meine Seele liefe daneben
Bloßfüßig durch den Staub.
Was ist nun das Größte an Lenard? Wir, die wir ihn kannten
und ihm Nächte hindurch lauschten, während von draußen
der tropische Nachthimmel neugierig in sein Arbeitszimmer schaute, glauben
es darin zu sehen: in seiner Menschlichkeit. Trotz seiner Ansicht, daß
nicht ein Kosmos, sondern ein erbarmungsloses Chaos hinter allen Dingen
steckt, war er in seinem praktischen Leben, seinen Kolonisten gegenüber,
ein Dienender, sei es als Arzt oder als Ratgeber, selbst in landwirtschaftlichen
Dingen. Gleichzeitig fühlte er und hielt er auf Distanz gegenüber
allen Menschen. Er brauchte wohl diese fruchtbare Isolierung, obwohl
die daraus resultierende Einsamkeit, vor allem auch im Bewußtsein
der geographischen und menschlichen Entfernung von Europa, nicht immer
leicht zu ertragen war und oft zu tiefer Melancholie führte, trotz
seiner Vielsprachigkeit, die eigentlich das beste Vehikel zum Dialog
ist. Die Visionen einer Überbevölkrung unserer Erde und die
daraus sich ergebende, immer größer werdende Geographie des
Hungers sowie die Vermassung ("Verameisung") der Menschen
haben ihn tief beunruhigt. Seine Übersiedlung nach Brasilien mag
aus dieser Sorge mitbestimmt worden sein: Brasilien, so groß wie
Europa, hatte Raum, hatte Nahrung, und dort konnte der Mensch noch so
sein, wie er sein wollte. Erst später erkannte er die Problematik
der Dinge auch in diesem großen und reichen Lande (praktisch der
Inhalt der "Kuh auf dem Bast"), und er flüchtete in das
Einfache: er meditierte, malte und wurde Gärtner: "Es ist
gut, Gärtner zu sein; denn ihm geht die Arbeit nie aus. Bücher,
Statuen und Häuser werden fertig, Gärten nie..."
Dieser wahre Mensch und Europäer hat nun aufgehört zu existieren.
Am 13. April 1972 traf ihn ein neuer Herzschlag, dem er erlag. Nach
tropischer Landessitte wurde er noch am gleichen Tage in die Erde gebettet,
und zwar auf ausdrücklichen Wunsch in Dona Emma unter einer Tanne,
die er eigenhändig gepflanzt hatte.
CARLOS H. HUNSCHE
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