ALEXANDER LENARD: PROFESSOR STELZENTALER

(manuscript)

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Professor Stelzentaler war auf seinen Namen stolz. Was schwer verständlich ist, denn er hat Grund genug, um auf sein Wissen oder auf seine Entdeckungen stolz zu sein. Es ist ja genug, wenn man sagen kann, der beste Geologe Südamerikas zu sein — oder wenn man seine Freunde staunen macht, weil man aus jedem kleinen Bruchstück eines Felsens bestimmen kann, von wo er kommt; oder wenn man in Urwald Bauxit und Eisenerz gefunden hat; weiss in welchem Bach Amethyste zu finden sind; oder wenn man sagen kann: ,,Meine Bücher werden auf zehn Universitäten benützt“.
All das betrachtete mein Freund Stelzentaler als eine durchaus durchschnittliche Leistung. Aber, er wurde stolz und reckte sich, wenn von seinem Stammbaum die Rede war, und er sorgte dafür, dass bei jeder Gelegenheit darüber gesprochen wurde. Bei solchen Gelegenheiten betonte er, dass er nur der Einfachheit halber das Wort 'von' nicht benützt und auch deswegen, weil er nicht will, dass man ihn als einen ausgedienten Nazigeneral betrachtet und auch deswegen, weil das Wort 'von' nicht genug sagen würde. In Wirklichkeit waren die Stelzentaler Ritter, die schon von Barbarossa den Titel eines Markgrafen erhalten hatten; aber die entsprechenden Dokumente sind im Dreissigjährigen Krieg zugrunde gegangen, als Burg und Stadt Stelzental von den Schweden niedergebrannt wurden. Dass sie einmal existierten, das geht schon daraus hervor, dass die berühmt schönen Stelzentaler Töchter Gräfinnen und Prinzessinnen wurden; der Enkel von einer heiratete sogar in die Habsburger Familie. Man könnte vielleicht sagen, dass im blauen Blut Franz Josephs einige Tropfen Stelzentaler Blut waren.
Der hervorragende Geologe trug die Geschichte seiner Familie vor, als ob er sein ganzes Leben in alten Bibliotheken grabend und bohrend verbracht hätte. Schliesslich verstand es der Hörer: das ist selten, was kostbar ist, und Hohenzollern oder Habsburger gibt dutzendweise, aber Stelzentaler gibts nur einen, das ist er.
Es ist schon ein paar Jahre her, dass die Stelzentalers ein schwarzes Dienstmädchen aus dem grünen Landinneren holten. Die Abkömmlinge der alten Negersklaven geniessen dort die Freiheit, auch deswegen, weil es sonst nicht viel zu geniessen gibt. Es kommt auch vor, dass der blinde Zufall einen Menschen aus der Stadt plötzlich ins Landinnere wirft, und manchmal kommt tatsächlich ein europäischer Hochstapler oder ein nordamerikanischer Betrüger, die zuhaus im Gefängnis viel ruhiger gelebt hätten, und sich den edlen Wilden zulegen. Die schuhwichsfarbene Tochter des Waldes hiess natürlich Maria. So nennt man ohne Unterschied auch die anderen Mädchen. Wenn eine Familie fünf, sechs Mädchen hat, wenn sie sogar einen Vater haben, der Wert darauf legt, unterschiede zu machen, da wird eine Maria von Lourdes, eine von Fatima, eine von Salete, eine Maria der Seufzer, eine Maria des Mitleides.
Eine Schule sah Maria natürlich weder von innen, noch von aussen. Die Regierung behauptet manchmal dass ein Teil der Steuergelder auf die Schule ausgegeben wird. Aber in Wirklichkeit haben sie aus der Bibel gelernt, dass der Buchstabe tötet, und so schützt die Regierung vorsichtigerweise das Leben der kleinen Marias.
Studieren war etwas, was die Tochter des Waldes nur in der Stadt begann. Wenn man 'Tochter des Waldes' sagt, so sagt man hier keine literarische Phrase. Über ihren Vater wusste sie auch nichts Genaueres als das. In der Familie ihres Brotherrn lernte sie es, was ein Wasserhahn war, den man nur drehen muss und es springt schon eine Quelle aus der Wand. Sie lernte die elektrische Lampe kennen, die man vor dem Schlafengehen umsonst auszublasen versucht, und sie lachte sehr über das Klavier, das lauter gleiche Tasten hat und verschiedene Töne hören lässt.
Die Dienstmädchen des Nachbarn, alles mystisch veranlagte Seelen, unterrichteten sie jede Nacht in ihrer Art Religion, wo Gott wohnt, womit sich der Teufel beschäftigt und was geschieht, wenn aus dem Himmel das goldene Jerusalem endlich auf die Erde niedersteigt.
Maria machte gewaltige Fortschritte auf dem Wege zur Kultur. Sie kam auf die Gebiete der Wissenschaften so weit, dass sie eines schönen Tages ihr Höschen, das aus einem Kakausack genäht war, mit einem Nylonhöschen vertauschte. Man könnte sagen, sie betrat die Mittelschule. Der nächste Schritt war vorauszusehen und kam auch pünktlich. Maria teilte ihrem Herrn mit, dass es ihr zwar schwer fällt, aber dass sie gezwungen ist, auf ihre Stelle zu verzichten. Sie heiratet, und zwar dringend. Der glückliche junge Mann war aus derselben Gegend in die Stadt gekommen, hatte es weit gebracht. Er lud die Gemüseautos auf den Markt ab, und kannte den Markt wie seine Hand. Damit war die Lebensmittelversorgung der zukünftigen Familie sichergestellt. Maria setzte hinzu, dass es bei ihr nicht so sein wird, wie bei der Nachbarmaria und das ahnte Professor Stelzentaler aus dem Gesagten bereits. Diese zieht Sonntag ihr weisses Kleid an, legt einen Myrtenkranz auf ihren Kopf, legt sich aufs Bett und wartet auf den Erlöser. Zum Glück von ihr und des Bräutigams brauchte sie aber keinen Myrtenkranz, sondern nur die Geburtsscheine der beiden. Deswegen wollten sie beide in ihr Geburtsdorf reisen, um die fehlenden Papiere zu beschaffen.
Das Geburtszeugnis ist ein lächerliches europäisches Vorurteil. Es ist ganz klar, dass jeder, der lebt, geboren wurde. Es ist auch ganz klar, dass er einen Vater und eine Mutter hatte. Der Südamerikaner, der klarer denkt, spielt ganz gern Staat, aber er läuft nicht, um für sein Kind einen Geburtsschein ausstellen zu lassen. So ein Stück Papier kostet neunzehn Real, und soviel Geld wäre genug um den ganzen Rum zu kaufen, den man braucht, um so ein Ereignis zu feiern. Und wenn das Kind zufällig sterben sollte? Keine Rede davon, dass der Staat dann das Geld für den Geburtsschein zurückgibt. Im Falle Marias konnte auch niemand den Vater beschuldigen, der das Dokument nicht beschafft hatte. Der geheimnisvolle Mann war unbekannt; und die Gegend hatte auch keinen Staatsanwalt um so einen Herrn zu suchen.
Der Geologe stellte die nächste Frage: ,,Sagen Sie, Maria, wenn Sie bis jetzt ohne Geburtsschein gelebt haben, Ihr Bräutigam ebenfalls, und wenn er trotz allerdem das Grünzeug tadellos abgeladen hat, warum brauchen sie denn auf einmal einen Eheschein oder eine Heiratsbestätigung?”
Maria antwortete genau: “Damit mir der Gauner nicht durchgeht. Ich hab' schon von solchen Fällen gehört. Wenn's sein muss, pack' ich ihn bei den Ohren und nehm' ihn zum Schreiber des Dorfes. Dort wird er mir schwören, dass er bei mir bleibt. Ich liebe ihn.”
Maria, die wir an dieser Stelle unserere Erzählung ruhig Maria Schuwichs nennen können, denn sie hat ja kein Zeugnis, das das Gegenteil behaupten würde, war froh, diesmal ihren gnädigen Herren zu belehren. “Wenn einer seinen Schwur nicht hält, dann packt ihn der Teufel im Moment des Absterbens, trägt ihn schneller weg als ein durstiger Mann ein Gläschen Rum trinkt.” Nach diesem theologischen Diskurs, lächelte Maria freundlich und teilte mit:
“Ich hab' mir auch schon einen Namen gewählt.”
“Wirklich?”- erkundigte sich der Herr mit dem schönene Stammbaum, ohne besonderes Interesse zu zeigen. Er dachte vielmehr darüber nach, wo er eine neue Ersatzmaria finden könnte.
Maria sagte, wie eine grosse Schauspielerin, die einen Satz von Ibsen zitiert, wohl wissend, dass das Publikum erzittern wird und zum Herzen greifen: ,,Ich will Maria Stelzentaler heissen.“
Das Publikum, in diesem Fall der Professor der Geologie, erschauerte wirklich und griff zu seinem Herzen. “Guter Himmel”! - stotterte er, wie er davon überzeugt war, dass ihn der Schlag noch nicht getroffen hat — ,,Maria, die Steizentalers können ihren Stammbaum bis zur Zeit vor Barbarossa zurückführen; haben Sie schon von Barbarossa gehört?“
“Nein, Barbarossa ist ein hässlicher Name. Ich hab' mir den Namen Stelzentaler gewählt, das ist ein schöner Name”.
Der unglückselige Professor sah fast seine grinsenden Freunde: “So, so, die Schwarze ist also deine Tochter. Na, sehr hübsch, so was hast Du dort ausgegraben, im Landesinneren. Deswegen bist du immer forschen gegangen. Na ja, man ist nur einmal jung!“
“Maria, ich flehe Sie an, wählen Sie sich einen anderen Namen!“
“Aber ich möchte Stelzentaler heissen“.
“Goethe, Shakespeare, Mozart! Maria Mozart, wär' das nicht ein schöner Name?“
“Ich mag nur den einen, Stelzentaler“.
Der gute Mann in seiner Qual hatte plötzlich eine rettende Idee.
“Und wenn ich Ihnen tausend Real biete, würden Sie einen anderen Namen wählen?“
“Nein, mir gefällt nur der Name Stelzentaler“.
“Zweitausend!“
“Nein, nein, nein, nein“.
“Liebe Maria, haben Sie doch Einsicht. Ich gebe Ihnen fünftausend, sie werden das Geld brauchen. Der liebe Gott wird Ihre Ehe mit einem Kinde segnen. Der liebe Gott beeilt sich, für ihn sind tausend Jahre nur ein Tag. In sieben, acht Monaten kann das Kind schon da sein, und Sie werden eine Menge Sachen brauchen“.
“Jetzt brauch' ich nur einen Namen. Ich möchte mit einem schönen Namen heiraten.”
Stelzentaler, mit seinem schönen Namen, hätte schon an Erpressung gedacht – aber in der Sprache des Landes gibt's gar kein Wort für so eine hässliche Schandtat. Wer über so etwas spricht, der muss schon französisch reden.
“Achttausend“ — stöhnte er.
Als ob diesmal die Antwort ein bisschen freundlicher gelautet hätte: ,,N...ein“.
“Mein letztes Wort: zehntausend“.
Maria hätte es jetzt verdient, die Maria der Seufzer genannt zu werden. ,,Na also, um Gotteswillen“ — sagte sie leise.
Es fiel ein derartiger Stein vom Herzen des Geologen, dass er selber nicht feststellen konnte, aus welchem Gebirge er einen schwereren gesehen hatte. Und wenn sich das Mädchen die Sache während der Reise überlegt? — “Warten Sie“— rief er, und sprang schon. Er brachte die tausend Realnoten, er brachte aus der Vitrine auch einen kleinen Barockkruzifix, und aus der Küche zwei Kerzen. Auf einmal war sein Schreibtisch ein Altar.
“Maria — sagte er feierlich — Sie wissen doch, was ein Schwur ist. Und Sie wissen auch, wer der Teufel ist! Jetzt schwören Sie mir, dass Sie nicht meinen Namen annehmen werden. Zehntausend Real sind ein schönes Geld.“
Das namenlose Mädchen seufzte von neuem tief:
“Ich schwöre!“
In solchen Minuten müsste die Geschichte ein Ende nehmen. Alle sind glücklich. Maria ist eine reiche Braut, der Geologe ist sicher, seinen Namen verteidigt zu haben. Warum sich weiter aufzuregen?
Ja, warum? Nur weil die Logik nicht den nächsten Schritt zu berechnen erlaubt. Oder weil man gerne die Helden eines Abenteuers ein Stück weiter begleitet? Die Tatsache ist, dass Bräutigam und Braut auf einem schäbigen kleinen Autobus auf die ungewöhnliche Hochzeitsreise gingen. Nach einigen bemerkenswerten Nächten, — das Heimatdorf liegt weit, — mussten sie einen Namen finden, um ihn dann ein Leben lang gemeinsam zu tragen. Die Leute zu Hause begrüssten sie begeistert. Es ist ein seltenes und grosses Ereignis, dass jemand zu Fuss in die grosse Welt hinaus geht und mit Schuhen nach Haus kommt.
Als glückliches Ehepaar gingen sie zu Professor Stelzentaler, um ihn zu grüssen und sich zu bedanken; sie meldeten:
“Alles in bester Ordnung“.
“Welchen Namen haben Sie gewählt?“ — erkundigte sich der Wohltäter des Ehepaares.
“Bohnen. Ich mag Bohnengemüse so gerne.”
“Maria Bohnen, ein wunderbarer Name. Ich gratuliere. Und Sie? – wendet er sich an den jungen Gatten.
Dieser reckte sich stolz:
“Stelzentaler, das ist auch ein schöner Name; und wir haben gedacht, Sie werden sich sicher sehr freuen, wenn wir ihn wählen.”


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